Der bisher wohl massivste Protest vom Dezember 2020 fand am Tag des Referendums über die Änderung der weißrussischen Verfassung statt, durch die Lukaschenkos Befugnisse als Präsident eines neuen Gremiums, der Allweißrussischen Volksversammlung, weiter ausgebaut wurden. Am 27. Februar 2022 fanden dann Antikriegskundgebungen statt, bei denen 908 Menschen festgenommen wurden. Eine Freundin von mir war unter ihnen. Sie stand neben einer Frau, die ein Transparent „Kein Krieg“ hielt. Sie verbrachte fast zwei Wochen in einer Zelle für 8 Personen mit 18 Gefangenen, ohne warmes Wasser und zeitweise ohne Heizung, ohne grundlegende Hygieneartikel, mit ständig eingeschaltetem Licht und ohne Spaziergänge. Zu ihrem Glück wurde sie nicht geschlagen...
Aber ich glaube nicht, dass sich die Menschen mit dieser Situation abgefunden haben. Es ist einfach schwer, sich im Moment gegen einen solchen Unterdrückungsapparat zu wehren.
Olivier Bault: Hat sich das Leben in Weißrussland seit den Protesten im August 2020 verändert? Oder ist es immer noch so wie vorher?
Inna Kotschetkowa: Das Leben hat sich sehr verändert. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll zu beschreiben, wie viele Freiheiten wir verloren haben, auch wenn wir vorher nicht so viele hatten.
Ich selbst habe nicht mehr den Job, den ich geliebt habe, und viele meiner Freunde und Bekannten haben das Land verlassen. Einige sind aus Angst vor Verfolgungen im Jahr 2020 geflohen. Einige haben das Land gerade jetzt verlassen, weil sie in der IT-Branche arbeiten und ihr Arbeitgeber wegen der internationalen Sanktionen um die Möglichkeit fürchtet, weiter arbeiten zu können. Einer hat Weißrussland verlassen, weil er wehrpflichtig ist und Angst hat, zur Armee eingezogen zu werden, falls Weißrussland an militärischen Operationen in der Ukraine teilnehmen sollte.
Vor kurzem sah ich ein Foto, das vor fünf Jahren aufgenommen wurde und auf dem meine Freunde und ich zusammen in einem Café fotografiert wurden. Mit Entsetzen stellte ich fest, dass von den 14 Personen auf dem Foto nur noch vier in Weißrussland sind, mich eingeschlossen. Die anderen sind ins Ausland gegangen, nach Warschau, Wilna, Lemberg, Tiflis, Batumi, Bonn...
Heute sind wir des Rechts beraubt, die unabhängigen Medien zu lesen, die früher in Weißrussland erschienen sind. Jetzt sind fast alle von ihnen blockiert. Im Jahr 2021 haben weißrussische Gerichte fast alle großen unabhängigen Medien als „extremistisch“ eingestuft. Einige von ihnen wurden als extremistische Organisationen anerkannt, und die Beteiligung an einer solchen Organisation kann mit bis zu 7 Jahren Gefängnis bestraft werden! Derzeit befinden sich 26 Mitarbeiter der weißrussischen Medien in Haft. Ich kenne zehn von ihnen persönlich.
Wir haben keinen einzigen unabhängigen Fernsehsender. Sie befinden sich alle in Staatsbesitz. Neben den weißrussischen haben wir viele russische Fernsehsender, die vom Staat kontrolliert werden.
Wir haben keine unabhängigen Anwälte, da fast alle Anwälte ihre Zulassung verloren haben, und wir können nicht mit einer echten Verteidigung vor Gericht rechnen. Auch wenn man bloß mit weißen und roten Bändern am Rucksack auf die Straße gehet, wird danach vor Gericht wird behauptet werden, man habe Parolen gerufen und Widerstand geleistet.
Wir haben ständig „Säuberungen“, bei denen diejenigen, die sich für alternative Präsidentschaftskandidaten im Jahr 2020 eingesetzt haben, entlassen werden. Eine Studentin, die ich kenne, erzählte mir kürzlich, dass in ihrem Fachbereich an der Universität ein Drittel der Lehrer entlassen wurde, und das waren die besten von ihnen.
Wir können uns nicht frei bewegen, da man Weißrussland nur einmal alle drei Monate verlassen kann, und das auch nur mit einem guten Grund, d.h. mit einer Einladung zur Arbeit, zum Studium oder zu einer medizinischen Untersuchung. Früher konnten Weißrussen über Moskau nach Europa fliegen. Jetzt ist dies nur noch über Georgien oder die Türkei möglich, was bedeutet, dass die Kosten für die Tickets um ein Vielfaches gestiegen sind. Fast alle unabhängigen zivilen Organisationen in Weißrussland sind geschlossen worden. Sogar diejenigen, die Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt wurden, und auch Vogelbeobachtern geholfen haben!
Wir werden des Rechts auf Meinungs-, Glaubens- und Ausdrucksfreiheit beraubt, das uns in der Verfassung garantiert wird. Ich möchte Ihnen von einer der jüngsten Verhaftungen in Weißrussland berichten: Am 1. März gingen eine Frau und ihre Enkelin mit einem Plakat „Stoppt den Krieg“ und gelben und blauen Luftballons auf den Oktoberplatz in Minsk. Sie wurde wegen der Teilnahme an einer „nicht genehmigten Veranstaltung“ zu einer Geldstrafe von 3040 Br. [€ 850] verurteilt, während die Durchschnittsrente in Weißrussland im März 2022 bei 580 Br. [€ 165] liegt. Ein Student, der ein Foto von dieser Frau gemacht hatte, wurde 15 Tage lang inhaftiert.
Hinzu kommt, dass die wirtschaftliche Situation von Tag zu Tag schwieriger wird. In meinem Bekanntenkreis gibt es viele, die wegen Arbeitsmangels in unbezahlten Urlaub geschickt wurden oder nur noch die Hälfte ihres Lohns erhalten. Der weißrussische Rubel ist um etwa 40% abgewertet worden, und die Preise vieler Waren und Dienstleistungen sind entsprechend gestiegen. Wir können viele Medikamente und vertraute Lebensmittel nicht mehr kaufen. Ich muss sagen, dass mir der Gedanke daran, wie es weitergeht und ob ich meine beiden Kinder ernähren kann, Angst macht...
Olivier Bault: In Russland scheint es, als würden viele Menschen Wladimir Putins Krieg unterstützen. Was ist mit den Weißrussen? Halten sie auch die demokratisch gewählte Regierung der Ukraine und ihren Präsidenten für „Nazis“?
Inna Kotschetkowa: Es ist schwierig, über alle Weißrussen zu sprechen, aber die Propaganda in unserem Land ist sehr stark, und die staatlichen Medien, einschließlich die Fernsehsender, verbreiten eine pro-russische Agenda. Ich kann nur sagen, dass es in meinem engeren Umfeld, einschließlich meiner älteren Verwandten, die über 80 Jahre alt sind, keine einzige Person gibt, die Russlands Vorgehen in der Ukraine unterstützen würde. Außerdem bin ich von vielen Menschen umgeben, die in den letzten Jahren in der Ukraine gewesen sind. Sie wissen aus erster Hand, wie die Dinge dort wirklich aussehen. Ich selbst war 2021 in Lemberg und hatte keine Probleme, mich auf Russisch zu verständigen. Ich war auf einem Medienforum, und das Niveau und die Vielfalt der Medien in der Ukraine, aber auch die Möglichkeiten, die sie haben, haben mich einfach verblüfft. Die weißrussischen Behörden erschrecken ihre Bürger gerne mit der Frage: „Wollt ihr, dass es so wird wie in der Ukraine?“ Im Jahr 2021 habe ich für mich selbst geantwortet: „Ja, ich will.“ Ich konnte die nationale Würde der Ukrainer sehen und ihre Liebe zu ihrer Kultur und Sprache. Ich konnte auch sehen, wie viele Touristen es gibt und wie sehr der Journalismus dort entwickelt ist. Und das alles in einem Land, von dem 2014 ein Teil des Staatsgebiets annektiert wurde und gegen das seit Jahren militärische Aktionen geführt werden.
Olivier Bault: Wie ist das allgemeine Gefühl der Weißrussen, dass ihr Land im Krieg mit der Ukraine auf der Seite Russlands steht?