Warschau fordert die Einhaltung der Verträge und weigert sich, die vom EUGH verhängten Zwangsgelder zu zahlen.
Olivier Bault bietet uns eine Trilogie, die sich mit den aktuellen Konflikten zwischen der Europäischen Kommission, dem EUGH und den Mitgliedstaaten befasst, die sich der Regierung der europäischen Richter widersetzen. Warschau, Bukarest und Budapest stehen in dieser Frage besonders im Visier der Brüsseler Instanzen, während die Entscheidungen der französischen und deutschen Verfassungsrichter denen der polnischen, rumänischen und ungarischen Gerichte ähneln. Der erste Teil dieser Trilogie widmet sich den immer tiefer werdenden Differenzen zwischen Polen und dem EUGH.
Die Grenzen der Rechtsprechung des EUGH und der Zuständigkeiten der EU-Institutionen werden heute mit den aktuellen Konflikten gezogen, in die insbesondere drei Länder und ihre Verfassungsgerichte verwickelt sind: Polen, Ungarn und Rumänien. Es handelt sich dabei um Länder, die Nettoempfänger von EU-Geldern sind, und in Brüssel denkt man wohl, dass es leichter sein wird, sie in die Knie zu zwingen, als das deutsche Verfassungsgericht zurückzudrängen. Da Deutschland nun eine Regierung mit einem offen euroföderalistischen Koalitionsprogramm hat, wird sich Berlin wahrscheinlich darum kümmern, das eigene Verfassungsgericht in Ordnung zu bringen, das sich in einem Urteil vom Mai 2020 weigerte, die Gültigkeit für Deutschland einer Entscheidung des EUGH anzuerkennen, mit der das Programm der EZB zum Ankauf von Staatsanleihen für gültig erklärt wurde.
Die Karlsruher Richter waren der Ansicht, dass die Mitgliedstaaten „Herren der Verträge“ bleiben und dass es Aufgabe der nationalen Verfassungsgerichte sei, die Luxemburger Richter zu kontrollieren, wenn diese sich zu viele Freiheiten mit den Verträgen nehmen.
Das Urteil des EUGH vom 11. Dezember 2018 zu den Staatsanleihenkäufen der EZB wurde daher von den deutschen Verfassungsrichtern als ultra vires (jenseits der Befugnisse der europäischen Gerichtsbarkeit) und damit als in Deutschland nicht anwendbar erklärt. Am 9. Juni 2021 leitete die Europäische Kommission wegen dieses Urteils ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland ein, jedoch ohne donnernde Erklärungen über die Verletzung der Rechtsstaatlichkeit und der europäischen Werte sowie über die Infragestellung des Vorrangs des europäischen Rechts, die das gesamte Gebäude der europäischen Integration ins Wanken bringen könnte. Und vor allem ohne dieses Verfahren mit einer Erpressung mit EU-Mitteln wie im Fall Polens zu begleiten. Und das aus gutem Grund! Deutschland ist der größte Nettozahler in den EU-Haushalt. Im Gegensatz zu Polen, das bis heute der größte Nettoempfänger ist, jedenfalls wenn man nur den Haushalt selbst berücksichtigt und nicht die gesamten Finanzströme oder den Markt für CO2-Emissionsrechte.
Daher war das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts vom 7. Oktober, das auch die Entscheidungen des EUGH für ultra vires und unvereinbar mit der nationalen Verfassung erklärte, die den polnischen Richtern das Recht einräumten, die Legitimität und damit die Entscheidungen der Richter, die nach den 2018 in Kraft getretenen Justizreformen ernannt wurden, nicht anzuerkennen, für die Europäische Kommission eine Gelegenheit, unausgesprochen die Anwendung des Konditionalitätsmechanismus, auch Rechtsstaatsmechanismus genannt, in Bezug auf die Zuweisung von Mitteln aus dem Aufbaufonds Next Generation EU einzuführen. Damit verstößt die Kommission nicht nur gegen die Regeln für die Vergabe dieser Mittel, sondern auch gegen die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom Dezember 2020, in denen der Rahmen für die Anwendung des Konditionalitätsmechanismus festgelegt wurde. In den Augen der Osteuropäer bestätigt dies, dass
dieser neue Mechanismus zu einem Erpressungsinstrument werden soll, mit dem Brüssel seine Ansichten auch in Bereichen durchsetzen kann, die gemäß den Verträgen theoretisch in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen.