Als Ungarn Ende letzten Jahres unter das Sperrfeuer der europäischen Linken geriet, ist es uns gelungen, den Angriff abzuwehren und die Interessen Ungarns im Haushalt der Europäischen Union zu verteidigen. Wir können jedoch angesichts dessen nicht schweigen, was gegen das Gesetz verstößt. Da wir nicht zulassen können, dass ein Text der EU, der die Rechtssicherheit ernsthaft untergräbt, in Kraft bleibe, haben wir gemeinsam mit Polen – wie wir es letztes Jahr zu tun versprochen haben – die Konditionalitätsregelung vor dem Gerichtshof der Europäischen Union angefochten.
Vor ein paar Tagen habe ich an einer Online-Konferenz des Deutschen Wirtschaftsclubs (DWC) teilgenommen: Vor einem online eingeschalteten Publikum aus deutschen Wirtschaftsakteuren und Juristen wurde über den berühmten Rechtsstaatsmechanismus diskutiert. Zu Beginn meiner Tätigkeit als Rechtsanwältin habe ich versucht, aus eigener Erfahrung zu erklären, was Rechtssicherheit – der Grundsatz der Normenklarheit – in der anwaltlichen Praxis bedeutet. Wenn z.B. bei einem Rechtsstreit, bei dem es um große Geldsummen geht, die Interessen eines Mandanten rechtskonform vertreten werden müssen, ist es von entscheidender Bedeutung, dass alle Parteien das anwendbare Recht in gleicher Weise definieren. Wenn ein Jurist den EU-Text über die Konditionalitätsregelung anwenden müsste, wäre er oder sie ratlos. So sehr, dass er sich wahrscheinlich weigern würde, den fraglichen Fall zu vertreten. Wer würde es wagen, den Fall zu übernehmen, wenn das entsprechende Gesetz sagt: „Wer den Rechtsstaat nicht respektiert, muss bestraft werden“? Es ist in etwa, als ob das Strafgesetzbuch im Wesentlichen ein einziger Satz wäre, der vorschreibt, dass „wir gute Menschen sein müssen“. Aber wer sagt uns und anderen mit Gewissheit, ob wir gute Menschen sind oder nicht? Der Nachbar? Der Cousin? Oder unser Feind? Und allgemeiner betrachtet: Können wir überhaupt eine allgemeine, an allen Orten und zu allen Zeiten gültige Definition von „guten Menschen“ geben?