– Herr Ministerpräsident, nach meinen Berechnungen ist dieser Wahlkampf der 27. nationale Wahlkampf, an dem Sie teilnehmen. Und doch ist die aktuelle Kampagne keineswegs gewöhnlich. Bisher ist es nämlich noch nie vorgekommen, dass wir uns im Schatten der Wolken eines Krieges auf den Gang zur Wahlurne vorbereitet haben.
– Kein Wahlkampf ist wie der andere, da die entscheidende Entscheidung nie über die Kandidaten oder den Regierungschef getroffen wird, sondern immer über das Land. Und das Land verändert sich ständig – das macht jeden Wahlkampf interessant und anders als die anderen. In Wahlkampfzeiten zeigt sich am besten, in welchem Zustand sich ein Land befindet, und die große Überraschung des aktuellen Wahlkampfs ist für mich, dass Ungarn trotz der ungünstigen Umstände und der Brutalität des Wahlkampfs in einem Zustand der Klarheit ist und dass die Augen der Ungarn die schlimmsten Komplikationen der internationalen Politik durchschauen. Sie verstehen vollkommen, dass diese Wahl gleichzeitig eine Wahl zwischen Krieg und Frieden ist: zwischen sich in den Konflikt hineinziehen lassen und sich heraushalten können – und das, während sie den ukrainischen Flüchtlingen helfen, wann immer sie können. Kurz gesagt: Was sich um uns herum abzeichnet, ist das Gesicht einer erwachsenen Nation, eines reifen Volkes.
– Am Mittwoch sagte Ihr Gegner Péter Márki-Zay in Fünfkirchen (Pécs), dass für junge Menschen Blut mehr zähle als Öl und dass es unser Krieg sei, den die Ukraine führe. Bisher kann man nicht sagen, dass der Kandidat der Linken mit haarsträubenden Phrasen gegeizt hätte, aber jetzt scheint er ein neues Niveau erreicht zu haben. Was ist das Ziel dieser Provokationen?
– Ungarn hat eine Pandemie hinter sich, neben sich einen Krieg und vor sich eine europäische Wirtschaft, die zu einer völligen Neudefinition gezwungen wird: Das sind Umstände, unter denen eine Führungspersönlichkeit gut überlegen sollte, was sie sagt. Vage und gefährliche Sätze gefährden die Sicherheit und Berechenbarkeit. Nun, wenn es etwas gibt, das man der Linken in dieser Kampagne nicht vorwerfen kann, dann ist es, dass sie klar und offen gesprochen hat. Meiner Meinung nach ist der Krieg, den die Ukrainer führen, nicht unser Krieg. Eine solche Aussage ergibt für ein ungarisches Ohr keinen Sinn; denn schließlich sind es zwei riesige Länder, zwei große slawische Länder, die sich bekriegen. Krieg ist kein Cowboy-Comic, den die (meist jugendlichen) Leser durchblättern und sich in die Rolle der einen oder anderen Figur hineinversetzen können. In der Politik ist eine solche Haltung lebensgefährlich. Wir müssen laut und deutlich sagen, dass dieser Krieg nicht unser Krieg ist, sondern ein Krieg, der uns betrifft, denn das Land, in dem er tobt, ist ein Nachbarland, sodass nicht nur verirrte Kugeln, sondern sogar geplante Militäroperationen nur einen Steinwurf von der ungarischen Grenze entfernt fallen könnten. Wenn zum Beispiel Waffen in die Ukraine geliefert würden, könnten wir jederzeit mit Militärschlägen rechnen, die diese Transporte vernichten sollen. Wir stehen den Konfliktparteien nahe und kennen sie gut; uns kann man nichts vormachen: Wir haben nicht vergessen, wie die Ukrainer mit den Ungarn in Subkarpatien umgegangen sind, und wir wissen, dass diese westlichen Phantasien, sich die Ukraine als Musterdemokratie vorzustellen, die Folge einer völligen Ignoranz gegenüber den Gegebenheiten vor Ort sind. Die Ukraine ist dennoch zu einem Staat geworden, der in seiner Existenz bedroht wird, da Russland gegen ihn Krieg führt. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Verantwortung für diesen Krieg auf den Schultern Russlands ruht, unabhängig davon, auf welchen Wegen es zu der Entscheidung zum Angriff gekommen ist. In einer solchen Situation muss man denjenigen helfen, die vom Unglück getroffen wurden. Deshalb unterstützen wir die Ukraine und nicht, weil der Krieg, den sie führt, auch unser Krieg wäre. Es gibt westliche Länder, die die Welt nach diesem Krieg auf der Grundlage eines völligen Bruchs zwischen West und Ost organisieren möchten. Sollte dies geschehen, wäre das für uns Ungarn und für ganz Mitteleuropa sehr schlecht. Was uns die Geschichte lehrt, ist, dass, wenn die großen Machtaggregate dieser Welt miteinander in Konflikt geraten und sich voneinander isolieren, uns die Rechnung präsentiert wird.