„Der Kampf gegen den Antisemitismus muss über der Parteipolitik stehen, sei es in Ungarn oder in Deutschland“ – schreibt Rabbiner Slomó Köves in seinem offenen Brief an Olaf Scholz. Als Leiter des Verbands der ungarischen Juden reagiert Köves auf die judenfeindlichen Äußerungen von Péter Márki-Zay und Márton Gyöngyösi, und stellt dem deutschen Bundeskanzler die Frage: „Wäre es in Deutschland vorstellbar?“ Wir haben das deutsche Kanzleramt um eine Stellungnahme zu diesem Brief gebeten und werden unsere Leser über eine mögliche Antwort auf dem Laufenden halten.
„Auch wenn die deutsche Regierungskoalition die gegenwärtige ungarische Regierung mitunter kritisch sieht, darf das kein Freibrief für Antisemitismus in den Reihen eines Bündnisses sein, das nach den Wahlen die nächste ungarische Regierung stellen möchte. […] Konsequenz bedeutet für mich, dass man alle Erscheinungsformen des Antisemitismus bekämpft, nicht nur jene, die aus den Reihen unserer politischen Gegner kommen.“
– heißt es unter anderem in dem offenen Brief, den Rabbiner Slomó Köves, der die Vereinigte Israelitische Gemeinde Ungarns (Egységes Magyarországi Izraelita Hitközség – EMIH) – Verband der ungarischen Juden (Magyar Zsidó Szövetség) leitet, an den deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz gerichtet hat.
Der Brief, der noch vom Februar datiert, wurde am Donnerstag auf der deutschsprachigen Seite der Jüdischen Rundschau veröffentlicht. Darin erklärt Köves, dass er sich dazu entschlossen habe, sich an Scholz, an die deutsche Öffentlichkeit und an die jüdische Gemeinschaft in Deutschland zu wenden, weil Deutschland in der Vergangenheit „rote Linien“ in Bezug auf Antisemitismus gezogen habe. Nun ist er der Ansicht, dass es gegenwärtig „die Inkonsequenz einiger Akteure des öffentlichen Lebens in Ungarn nicht von der Doppelzüngigkeit zu trennen ist, die auch in Deutschland zu finden ist“
„Die aufkommende Inkonsequenz der deutschen Haltung schwächt in ganz Europa die Chancen dafür, dass der Kampf gegen den Antisemitismus zu einem gemeinschaftlichen, über den zeitweiligen politischen Interessen stehenden Anliegen werden kann.“
Er sieht eine schlechte Nachricht nicht nur für Deutschland, sondern für ganz Europa darin, dass in den letzten Jahren Risse in der Konsequenz aufgetreten sind, mit der der Antisemitismus in einem Deutschland bekämpft wird, in dem diese Sache bislang auf einem unerschütterlichen Fundament stand.
„Deutschland hat seit Jahrzehnten immer wieder bewiesen, dass es sich den europäischen jüdischen Gemeinschaften gegenüber verpflichtet fühlt, die uneingeschränkte Unterstützung Israels als seine ureigenste Aufgabe betrachtet und allen Erscheinungsformen des Antisemitismus immer wieder konsequent entgegentritt.“
Als Reaktion auf die jüngsten öffentlichen Äußerungen von Péter Márki-Zay, dem Kandidaten der linken Opposition für das Amt des Ministerpräsidenten, stellte Slomó Köves in seinem offenen Brief auch einige Fragen an den deutschen Bundeskanzler, dessen sozialdemokratisch-grün-liberale Regierungskoalition denselben europäischen politischen Fraktionen wie die ungarische Linke angehört und mit ihr in denselben Fraktionen des Europäischen Parlaments sitzt. Er fragt zum Beispiel:
„Wäre es in Deutschland vorstellbar, dass der Spitzenkandidat dieses Bündnisses und Kandidat für die Position des Ministerpräsidenten bei den anstehenden Wahlen im April dieses Jahres öffentlich über die Zahl der Mitglieder jüdischer Abstammung in der zurzeit regierenden Partei [in Ungarn der Fidesz] sinniert, und den vor einigen Jahren verstorbenen Berater dieser Partei als ‚homophoben Juden, der in einer Schwulenehe lebt’ bezeichnet?“.
(Auch in Köves’ Brief wird sein Name nicht erwähnt, aber es ist sehr wahrscheinlich, dass Márki-Zay den US-amerikansichen Wahlkampfberater Arthur Finkelstein meinte).
Diese rhetorische Frage, die Rabbi Köves dem deutschen Regierungschef stellt, stellt er unter anderem im Zusammenhang mit den Äußerungen, die Márki-Zay auf dem Wahlforum in Fonyód [Kleinstadt am Südufer des Plattensees – AdÜ.] gemacht hat. Der Kandidat der Linken für das Amt des Ministerpräsidenten hatte dort – als er zur Unterstützung der Kandidatur des Jobbik-Politikers Ádám Steinmetz sprach – erklärt, dass die Koalition, der er angehört, eine „Regenbogenkoalition“ sei, in der Liberale, Kommunisten, Konservative und Faschisten getrennt voneinander vertreten seien. Im Laufe der Veranstaltung fügte Márki-Zay übrigens hinzu, dass alle, die ein Rückgrat haben, ihrer eigenen Weltanschauung treu bleiben.
Unter Verweis auf die Äußerungen des Jobbik-Politikers Márton Gyöngyösi aus dem Jahr 2012 stellt Köves ebenfalls die Frage: „wäre es vorstellbar, dass in Deutschland der Vertreter einer Partei, die mit 16 Prozent der Wählerstimmen ins Parlament gelangt ist, während einer Plenarsitzung dieses Parlaments folgendes erklärt: ‚Es wäre Zeit nachzusehen, wie viele Personen jüdischer Abstammung, die für Ungarn eine gewisse Gefährdung der nationalen Sicherheit bedeuten könnten, im Lande leben, im Parlament und in der Regierung sitzen.’“
„Wäre es in Ihrem Vaterland möglich, dass dieser Mann neun Jahre später stellvertretender Vorsitzender seiner Partei wäre und sich anschicken würde, in einem Wahlbündnis von oppositionellen linken und liberalen Parteien eine bedeutende Rolle zu spielen?“
In dem Brief werden auch Umfragen erwähnt, die das Ausmaß des Antisemitismus unter anderem in Deutschland und Ungarn messen, doch Köves bemerkt nebenbei, dass gleichzeitig klargestellt werden müsse, „dass man die Lage nicht nur anhand der Forschungsergebnisse beurteilen kann, sie müssen im jeweiligen eigenen Kontext gesehen werden.“. Denn es stimmt zwar, dass in Ungarn die Zahl derer, die zugeben, antisemitische Ansichten zu haben, 20% über der entsprechenden Zahl liegt, die bei Deutschen gemessen wurde, aber im Gegensatz dazu wurden in Ungarn im Jahr 2020 insgesamt nur 34 antisemitische Straftaten begangen, während es in Deutschland 2275 waren.
Zu seinem offenen Brief an Scholz sagt Slomó Köves in einem Interview mit dem ungarischen jüdischen Portal Neokohn: „In gewissem Maße sehe ich eine Parallele zwischen dem deutschen und unserem öffentlichen Leben, und auf diese Parallele hätte ich die Aufmerksamkeit der Akteure des öffentlichen Lebens in Deutschland, insbesondere der Akteure des öffentlichen Lebens der deutschen Juden, lenken wollen: Während die politischen Tenöre deklaratorisch ihr Engagement für die jüdischen Gemeinden bekräftigen, führt politisches Kalkül dazu, dass sie sehr selbstgefällig über antiisraelische Äußerungen hinwegsehen, ganz zu schweigen von der deutlichen Verschlechterung der Sicherheitsbedingungen für die jüdische Gemeinde. Wenn es möglich wird, die Kohärenz der deutschen Politik in Frage zu stellen, kann dies sehr weit reichende Folgen haben. Der Kampf gegen den Antisemitismus muss über der Parteipolitik stehen, sei es in Ungarn oder in Deutschland“.
FOTO: SLOMÓ KÖVES (FOTO KREDIT: MTI/Balogh Zoltán)