Magyar Nemzet: Können wir jemals darauf hoffen, dass die Linke ihre Positionen überdenkt?
Douglas Murray: Ich würde mir wünschen, dass die Linke ihre radikalen Elemente loswerden kann, denn jede Gesellschaft braucht einen Dialog zwischen der Linken und der Rechten. Es gibt traditionell linke Haltungen, die von Zeit zu Zeit von großer Bedeutung sind. Ich wäre der Erste, der sich freuen würde, wenn die Linke gute Vorschläge machen würde, statt des bereits erwähnten Unsinns, wie die Kürzung der Mittel für die Polizei oder die Legalisierung harter Drogen.
Ich würde mich freuen, wenn es der intelligenten Linken gelingen würde, die Psychopathen loszuwerden. Auch die Rechte ist ständig gezwungen, ihre eigenen Spinner an die Leine zu legen. Aber die Rechte distanziert sich viel rigoroser von der extremen Rechten, als die Linke es tut. In Ihrem Land ist der Fall Jobbik ein deutliches Beispiel dafür.
Magyar Nemzet: Auf der rechten Seite sieht man genau, wo man die Grenze ziehe soll: Sobald man jemanden wegen seiner nationalen oder ethnischen Herkunft verurteilt, begibt man sich ins Inakzeptable. Bei den Linken hingegen scheint es, dass sie nicht in der Lage sind zu entscheiden, wie weit man nicht gehen darf.
Douglas Murray: Ich war noch vor kurzem in Amerika, bei einem Abendessen, wo einige Gäste von der Linken waren, und ich habe ihnen die Frage gestellt – aber sie waren nicht in der Lage zu entscheiden, wo diese Grenze ist. Als ich den Gedanken riskierte, dass eine Herangehensweise, die zu Krawallen und Plünderungen von Geschäften führt, nicht gut sein kann, indem ich sie aufforderte anzuerkennen, dass die Linke zumindest in solchen Fällen zu weit gegangen ist, fiel es ihnen schwer, dies anzuerkennen; ich musste ihnen praktisch die Würmer aus der Nase ziehen.
Magyar Nemzet: Aber würde man von der Linken in diesem Bereich nicht traditionell mehr Sensibilität erwarten?
Douglas Murray: Wenn man versucht, den Linken begreiflich zu machen, wie intolerant sie geworden sind, merkt man, dass sie nicht in der Lage sind, zu verstehen, wovon man spricht. Sie werden Ihnen sagen, dass das unmöglich ist, dass sie ja schließlich die Antirassisten sind, das Lager der Akzeptanz. Aber da die Linke tatsächlich Ausgrenzung praktiziert, verliert sie immer mehr Anhänger. Ein gutes Beispiel dafür ist J. K. Rowling, die einst eine Kämpferin im Lager der liberalen Linken war und die man nun zu exkommunizieren versucht, denn wenn es um Transsexualität geht, bleiben die Gläubigen der traditionellen feministischen Sichtweise treu, die dem gesunden Menschenverstand entspricht. Viele finden ihre Exkommunikation bedauerlich, aber ich freut mich darüber: Durch sie zeigt sich die radikale Linke in ihrem wahren Licht als eine abstoßende, gewalttätige und verachtenswerte Sekte. Und es ist gut, dass die Leute das sehen.
Magyar Nemzet: Zeigt der Leidensweg von J. K. Rowling nicht, dass das eigentliche Ziel der radikalen Linken nicht darin besteht, diese oder jene Werte zu fördern, sondern immer wieder neue Opfergruppen zu entdecken, die es zu verteidigen gilt?
Douglas Murray: Die Linke möchte das eigene Lager zum Abbild der eigenen Weltvision schweißen. Ich habe das selbst oft erlebt, weil ich als rechter Homosexueller die Linken immer geärgert habe. Sie glauben, wenn jemand entweder dunkelhäutig, eine Frau oder ein Homosexueller ist, dann muss dieser jemand automatisch auf ihrer Seite stehen. Ich finde eine solche Haltung höchst ärgerlich: Solche Charakterzüge, die moralisch unwichtig sind, können keineswegs die gesamte Persönlichkeit bestimmen. Nach Ansicht der radikalen Linken hingegen soll dies alles andere bestimmen. Ihre Absicht ist es, diese Minderheiten für die Eroberung der Macht auszunutzen. Damit erweist die Linke diesen Gruppen, die sie zu vertreten vorgibt, einen großen Bärendienst. Im Fall der Homosexualität kann ich, glaube ich, mit Sicherheit sagen, dass dies der Fall ist, denn was betont werden sollte, ist, dass die sexuelle Orientierung nicht wichtig ist, dass es falsch ist, sich dafür zu schämen, dass es aber ebenso absurd ist, sie zu einer Sache des Stolzes zu machen. In den letzten Jahren hat die radikale Linke absichtlich gespalten, und es ist gegen diesen Separatismus, den wir bekämpfen müssen.
Magyar Nemzet: Wie ist die Tatsache zu interpretieren, dass seit der Migrantenkrise 2015 die Position der ungarischen Regierung immer mehr an Unterstützung gewinnt? Es ist inzwischen erwiesen, dass eine unkontrollierte Masseneinwanderung nicht nur auf Dauer unhaltbar ist, sondern auch ernsthafte Gefahren – wie etwa Terroranschläge – mit sich bringt.
Douglas Murray: Es stimmt, dass verschiedene europäische Politiker ihre Ansichten dramatisch umformuliert haben – ein Beispiel dafür ist Macron, dessen Ansichten zur Einwanderung der ungarischen Position sehr ähnlich geworden sind – aber es wäre falsch zu erwarten, dass die Linke nach Canossa geht. Die Ansichten der „Open Society“ haben in der oberflächlichen Wahrnehmung eine starke Verführungskraft, weil sie auf eine Lockerung der Bindungen und einen Zuwachs an Freiheit hinauszulaufen scheinen. Dies sind aber die Ideale, die in enger Verbindung mit der Linken von der US-Unterhaltungsindustrie, insbesondere Hollywood, popularisiert werden, deren globaler Einfluss ohnegleichen ist.
Magyar Nemzet: Welche Vorschläge kann der Konservatismus dem entgegensetzen?
Douglas Murray: Der Philosoph Roger Scruton, der kürzlich verstorben ist, sagte zum Beispiel, dass Konservatismus ein Instinkt ist. Wir wissen, dass wir bestimmte Dinge tun könnten, aber wir tun sie nicht, weil wir uns bei unseren Entscheidungen auf die Erfahrung verlassen. Die konservative Gesellschaft basiert auf dieser Balance: auf der Idee, dass das, was existiert, gut ist, und dass wir die Existenz dessen, was ist, nicht gefährden wollen. Das ist es auch, was eine konservative Herangehensweise an die Wirtschaft auszeichnet: Statt auf endlosen Theorien basiert sie auf gesundem Menschenverstand und Intuition; aus dieser Sicht ist es also zum Beispiel vernünftig, das Entstehen von tiefen Defiziten im Staatshaushalt zu vermeiden, da Kredite früher oder später zurückgezahlt werden müssen.
Im Gegensatz zu der linken Werteskala kann uns der Konservatismus Bezugspunkte liefern, an denen wir uns festhalten können, auch im Zusammenhang mit der Frage, was im Leben wichtig ist, d.h. wie sieht eine vernünftige Existenz aus?
Magyar Nemzet: Aber die Konservativen scheinen sich immer damit zufrieden zu geben, auf die Initiativen der Linken zu reagieren. Sind sie nicht dadurch zum Scheitern verurteilt? Denn schließlich, statt ihre eigene Sicht der Dinge zu proklamieren, begnügen sie sich am Ende mit dem Versuch, den Vormarsch der Linken zu bremsen.
Douglas Murray: Was diese Frage betrifft, so hat sie Scruton dazu gebracht zu sagen, dass die Konservativen immer damit beschäftigt sind, ihre nächste Niederlage zu erringen. Aber ich glaube nicht, dass das notwendig ist. Die Konservativen sollten mit besseren Ideen für das richtige Gesellschaftsmodell aufwarten, aber das tun nur wenige. Es ist einfacher, auf das zu reagieren, was andere sagen. Wenn jemand einen absurden linken Standpunkt vertritt, können wir das natürlich ausnutzen, um uns darüber lustig zu machen – das ist oft sehr unterhaltsam –, aber die eigentliche Frage wäre: Welche Antithese können wir dem von den Linken vorgeschlagenen Menschenbild entgegensetzen? Die Familienpolitik Ihrer Regierung ist zum Beispiel ein gutes Beispiel dafür, wie die Konservativen ihren spezifischen Ansatz durchsetzen könnten.
Magyar Nemzet: Um christlich-konservative Werte zu bekämpfen, behauptet die Linke, dass diese Länder nicht einmal wirklich christlich sind, da sie sich weigern, die Tore für Masseneinwanderung zu öffnen und Flüchtlinge aufzunehmen.
Douglas Murray: Diese Ansätze, nur ein Element des Christentums beizubehalten, sind falsch. Wir hören z.B., dass Jesus selbst ein Einwanderer gewesen wäre. Aber ich möchte hinzufügen, dass er in das Land zurückkehrte, aus dem er kam. Die Heilige Familie wollte nicht in Ägypten bleiben. Alles, was sie tun, ist, ein Element des Christentums zu betonen – den Begriff des Willkommens – während sie die Person und die Lehre von Jesus Christus völlig ignorieren. Diese Methode, zwei oder drei Elemente aus der Lehre des Christentums zu nehmen und sie in eine politische Ideologie zu verwandeln, ist äußerst gefährlich. Stellen wir uns für einen Moment vor, eine politische Bewegung würde sich Zitate aus dem Matthäus-Evangelium auf die Fahne schreiben lassen, wie „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert“. Das wäre natürlich inakzeptabel. Die gleiche Argumentation gilt für die liberale Linke und ihre Versuche, nur dieses oder jenes Element des Christentums zur Unterstützung einer politischen Agenda beizubehalten.
Magyar Nemzet: Wie sieht die Zukunft für Europa aus, wenn man bedenkt, dass im Westen der Anteil der Muslime an der Bevölkerung ständig zunimmt?
Douglas Murray: Das Ergebnis wird von Land zu Land unterschiedlich sein. Die Zukunft Dänemarks zum Beispiel wird keinerlei Ähnlichkeit mit der Schwedens haben, obschon wir es gewohnt sind, diese Ländergruppe als Ganzes zu behandeln. Heute können wir jedoch feststellen, dass in Schweden häufig Bombenanschläge verübt werden, während wir in Dänemark – aus den genannten Gründen – nichts dergleichen sehen. Auch Ungarn wird nicht die gleiche Zukunft haben wie Deutschland. Ich möchte nur, dass jedes Land über sein eigenes Schicksal entscheiden kann.
Wenn die Ungarn keine Masseneinwanderung wollen, sollte man nicht versuchen, sie ihnen aufzuzwingen, wie es in anderen Ländern bereits geschehen ist.
Die britischen Wähler zum Beispiel wurden in der Frage der Masseneinwanderung nie befragt, und das ist hier trotzdem geschehen. In diesem Streit wird die Geschichte Ungarn Recht geben, und nicht Angela Merkel. In ihrer Einstellung zur Einwanderung sind die Ungarn immer weniger allein. Neben Macron hat sich zum Beispiel auch der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz gegen das Prinzip der Verteilungsquoten ausgesprochen.
Magyar Nemzet: Wird Europa in der Lage sein, seine christliche Identität zu bewahren?
Douglas Murray: Die Bewahrung des christlichen Erbes hängt von der Weitergabe der moralischen Lehren des Glaubens ab. In diesem Sinne können auch Ungläubige ein christliches Leben führen. Wir müssen in der Lage sein, zu erklären, was an dieser Lebensweise erstrebenswert ist, und das ist uns bisher nicht gelungen. Viele Menschen haben Angst, dass sie, wenn sie über die Werte des Christentums sprechen, beschuldigt werden, andere ausgrenzen zu wollen. Aber vergessen wird nicht, dass diese Religion im Laufe ihrer Geschichte immer ihre Höhen und Tiefen gehabt hat. Wer hätte zu der Zeit, als sich die ersten Christen in den Katakomben versteckten, gedacht, dass sie sich einmal über die ganze Welt verbreiten würde? Und doch geschah es so. Es gibt eine unerschöpfliche Kraft in unserer Religion.
Magyar Nemzet: Inwieweit verdankt die westliche Zivilisation ihre Vorherrschaft dem Christentum?
Douglas Murray: Die Nächstenliebe ist eine der größten moralischen Lehren aller Zeiten. Was die Feindesliebe betrifft, so ist dies eine ausschließlich christliche Lehre, und vielleicht die schwierigste Herausforderung der Geschichte. Es ist fast sicher, dass wir uns diesem Gebot des Christentums nicht vollkommen unterwerfen können, und doch ist es einen Versuch wert. Für uns sind diese Ideen völlig selbstverständlich, wie die Luft, die wir atmen, aber wenn wir die Geschichte betrachten, erkennen wir, dass sie nicht selbstverständlich sind. Es gibt natürlich einen Grund, warum die christliche Kultur floriert. Das ist nicht zufällig geschehen. Heutzutage werden die europäischen Nationen wegen der Kolonialisierung oft angegriffen, aber es war nicht alles schlecht damals.
Die Europäer zeigten Interesse am Rest der Welt. Diese Neugierde ist auch in der ungarischen Gesellschaft am Werk. Sie haben eine außerordentlich neugierige und kultivierte Gesellschaft, die sich dafür interessiert, was in der Welt passiert.
Dies ist nicht überall der Fall. Heutzutage sagen junge Leute, dass unsere Vorfahren Unrecht getan haben und dass wir von ihren Missetaten profitieren, aber dieser Ansatz ist eine große Ungerechtigkeit gegenüber denen, die vor uns kamen.
Magyar Nemzet: Hat Europa eine Chance, sich aus seiner Asche zu erheben?
Douglas Murray: Seit 1968 – oder sogar noch früher – wird den jungen Menschen Bitterkeit beigebracht. Meiner Meinung nach sollte unser vorherrschendes Gefühl jedoch eher Dankbarkeit sein. Wenn ich bei einem Spaziergang durch Budapest ein schönes Gebäude sehe, kann ich verbittert sein bei dem Gedanken, dass es nicht mir gehört, dass nicht ich es bewohne, aber ich kann auch Dankbarkeit empfinden, weil es mir gegeben wurde, hier anzukommen und seine Schönheit zu betrachten. Jeder von uns hat viele Gelegenheiten zur Unzufriedenheit, aber wir sollten nicht der Bitterkeit nachgeben: Wir sollten lieber dankbar sein.
Wahnsinn der Massen
Douglas Murray, geboren 1979, ist ein britischer Schriftsteller, Journalist und politischer Denker. Seine Artikel, die unter anderem in The Spectator, Standpoint und dem Wall Street Journal veröffentlicht werden, sorgen wegen ihrer kritischen Sicht auf den Islam und die europäische Flüchtlingspolitik oft für einen Skandal. Zu seinen Büchern gehören zwei (beide ins Ungarische und ins Deutsche übersetzt): das am meisten kommentierte, Der Selbstmord Europas; und das jüngste: Wahnsinn der Massen. In letzterem Essay untersucht er die widersprüchlichen Thesen, die der Identitätspolitik der radikalen Linken zugrunde liegen.