Europäische Institutionen sind außer Kontrolle
Die Kommission hat damit begonnen, jährliche Berichte über den Zustand der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten zu erstellen. Ein bezeichnendes Detail ist, dass kein solcher Bericht über das Funktionieren der Institutionen der Union – sei es die Kommission, das Parlament, der Rat usw. – verfasst wird. Selbstverständlich nicht, weil gäbe es solche Probleme nicht gäbe. In Wirklichkeit wird sorgfältig verschwiegen, dass das in Artikel 2 erwähnte „Muss“-Prinzip auch für sie gilt!
Um die Wahrheit zu sagen, gilt das sogar in erster Linie für die EU-Institutionen.
Unter diesen Bedingungen ist es weniger verwunderlich, dass die zentralen Organe der Europäischen Union es vorziehen, auf die Mitgliedstaaten die Regeln der Rechtsstaatlichkeit anzuwenden, die ursprünglich für sie selbst festgelegt wurden. Was die Mechanismen zur Überwachung der Rechtsstaatlichkeit – und insbesondere die in den letzten Monaten ausführlich diskutierten Mechanismen zur Festlegung einer an die Rechtsstaatlichkeit geknüpften Konditionalität – anbelangt, so betreffen die verschiedenen Texte, Anträge und Vorschläge, die in den letzten zehn Jahren in den verschiedenen Institutionen diskutiert wurden, kaum die legislativen und exekutiven Versammlungen der Union selbst. Wenn es um ihren eigenen Betrieb geht, schenken sie der Rechtsstaatlichkeit wenig Beachtung, da das eigentliche Ziel des Hindernisparcours, der diesen Namen trägt, darin besteht, die Mitgliedstaaten auf Linie zu bringen, die Vorrechte der Union zum Nachteil der nationalen Kompetenzen auszuweiten, mit anderen Worten, kaum verhüllten politischen oder finanziellen Druck auszuüben und die Albernheiten der föderalistischen Agenda zu fördern.
Möge ihre Fassade der Fairness und der Schein der Unparteilichkeit niemanden täuschen! Es ist möglich, die institutionellen, ideologischen und parteipolitischen Egoismen genau zu identifizieren und die Partikularinteressen bestimmter Gruppen von Mitgliedsstaaten abzugrenzen, die zur Ausarbeitung des Szenarios führten, nach dem gegenwärtige und zukünftige Straf- und Disziplinierungsmaßnahmen gegen Ungarn, Polen, Rumänien und die Tschechische Republik durchgeführt werden sollen.
Es wird ausschließlich unsere Region kritisiert.
Das asymmetrische Macht- und Einflussverhältnis, das die Ost-West-Beziehungen innerhalb der Union von Anfang an geprägt hat, wird auch hier in flagranti erwischt: Ob vergangene, aktuelle oder nur noch auf dem Papier existierende Initiativen, sie alle betreffen – ohne Ausnahme – die in den 2000er Jahren beigetretenen Mitgliedstaaten. Währenddessen schlüpften westliche Fälle in ohrenbetäubendem Schweigen unter den Radar und zeugten von einer absichtlichen und beredten selektiven Blindheit: die gefälschten Ergebnisse der österreichischen Präsidentschaftswahlen – in eklatantem Widerspruch zur Rechtsstaatlichkeit –, die brutale polizeiliche Unterdrückung der Gelbwesten in Frankreich oder der tödliche Fehltritt der belgischen Polizei gegen einen slowakischen Bürger.
Es ist seit langem bekannt – und die Erfahrung hat es immer wieder bestätigt –, dass Doppelmoral der schlimmste Feind von Rechtsstaatlichkeit, Zusammenarbeit und Gleichheit ist. Sie ist ein Gift, das das Vertrauen der Mitgliedstaaten und der Bürger in die Union untergräbt.
Trauen wir uns, die Dinge beim Namen zu nennen! Wenn wir über unsere gemeinsamen europäischen Angelegenheiten diskutieren, brauchen wir vor allem Klarheit: um sorgfältig verborgene Hintergedanken und politische bzw. ideologische Schummeleien zu entlarven.
Unsere Mitgliedschaft in der Union ist für uns von entscheidender Bedeutung, aber wir wissen auch, dass wir uns der Gefahr aussetzen, dass die Interessen unserer Länder ignoriert werden, wenn wir keine klaren Pläne haben, wenn wir vor einem Engagement zurückschrecken und uns weigern, Schläge zu riskieren, weil wir nicht in der Lage sind, als wirksame Gegenmacht aufzutreten.
Wir müssen mit dieser Europäischen Union tabula rasa machen, die seit einiger Zeit die Rolle des kleinen Chefs spielt, der sanktioniert, zwingt und befiehlt – um zu dem Europa der freien Zusammenarbeit zwischen rechtlich gleichberechtigten Nationen zurückzukehren: zu diesem Konzept, das Europa schon so viel Erfolg gebracht hat.
Europa kann den Frieden, seinen Einfluss, seine Stärke und seinen außerordentlichen Wohlstand nur dann bewahren, wenn es sich auf starke europäische Nationen stützt. In den kognitiven Blasen Brüssels glauben viele Menschen, die Beziehung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten als Nullsummenspiel zu sehen: Sie glauben, dass die EU nur stark sein kann, wenn die Mitgliedstaaten schwächer werden. Die Geschichte beweist jedoch das Gegenteil: Die Europäische Union kann nur dann mächtig sein, wenn sie auf mächtigen Mitgliedstaaten aufgebaut ist. Unter dieser Voraussetzung kann es wieder zu einer Win-Win-Situation kommen. Die erste Lektion, die es dabei zu lernen gilt, ist, dass die Regeln der Rechtsstaatlichkeit auch für die Institutionen der Europäischen Union zu gelten haben. Keine Doppelmoral! Auch das Parlament darf keine Ausnahme darstellen! Artikel 2 des Vertrags bezieht sich auf die EU als Ganzes. Es ist an der Zeit, die Dinge in Ordnung zu bringen! Das Parlament sollte vor seinem eigenen Haus kehren, bevor es andere zurechtweisen will.
Der Autor ist Europaabgeordneter der Fidesz-Fraktion