– „Die Initiative eines Referendums über die Kinderschutzgesetze steht voll und ganz im Einklang mit den Traditionen und Praktiken der Rechtsstaatlichkeit in den demokratischen Staaten Europas” – so der Chefanalytiker des „Zentrums für Grundrechte” (Alapjogokért Központ), Vajk Farkas gegenüber Magyar Nemzet. In einer ausführlichen Analyse, die er gemeinsam mit dem Verfassungsrechtler Zoltán Lomnici Jr. verfasst hat, weist er darauf hin, dass die Ergebnisse von Volksabstimmungen des 21. Jahrhunderts es den Bürgern in verschiedenen EU-Mitgliedstaaten – darunter auch in mehreren westeuropäischen Ländern – ermöglicht haben, den Brüsseler Vorstoß für eine offene Gesellschaft zurückzuweisen.
Im Laufe der Geschichte der Europäischen Union wurden in den Mitgliedstaaten mehr als fünfzig Volksabstimmungen über die Union abgehalten: über die Mitgliedschaft, über den Verbleib oder den Austritt, über die Annahme von Verträgen oder über die Einführung des Euro. Siebzig Prozent dieser Volksabstimmungen haben eine Mehrheit ergeben – so der Verfassungsrechtler Zoltán Lomnici Jr. gegenüber Magyar Nemzet auf die Frage, in welchen Trend die Forderung der Regierung nach einer Volksabstimmung zum Kinderschutz passt. Der Forscher des Instituts Századvég erinnert daran, dass es in Ungarn bisher sieben Volksabstimmungen gegeben hat, und da die ungarische Wahlkommission die Fragen der Regierung genehmigt hat, ist es nun Sache des Staatspräsidenten, die achte anzukündigen.
– „Während in den westlichen Gesellschaften die „Sensibilisierung” der Bevölkerung in vollem Gange ist, will Viktor Orbán die Ungarn vor diesem Trend schützen. Gegen die LGBTQ-Propaganda, die in erster Linie auf Kinder abzielt, muss jedoch frühzeitig und präventiv vorgegangen werden, und da es sich hierbei um ein vorrangiges Thema handelt, erwartet die Regierung, dass das Volk dies bestätigt” – so Lomnici zur Begründung der Notwendigkeit des Referendums.
Doppelte Standards bei Volksabstimmungen
Vajk Farkas, Chefanalyst des Alapjogokért Központ, erklärte gegenüber Magyar Nemzet, dass „das kürzlich angekündigte Referendum zum Kinderschutz beweist, wie gesund der Rechtsstaat und die demokratischen Mechanismen in Ungarn sind. – Wir stehen vor einer Frage, die das Schicksal der Nation betrifft: Sollen Kinder geschützt werden? Die Antwort der ungarischen Regierung auf diese Frage wird von innerhalb und außerhalb unserer Grenzen angegriffen. Die demokratische Lösung besteht darin, dass sich das Volk direkt zu diesem Thema äußere und die Regierung dann in Übereinstimmung mit dessen Willen handle. Doch obwohl dies die einzige Haltung ist, die demokratischen Grundsätzen entspricht, ist dies aus Sicht der westeuropäischen Regierungen nicht offensichtlich.
– Da das Volk nicht jedes Mal so abstimmt, wie es die ‚progressistischen’ Befürworter fordern, ist das europäische Denken zunehmend versucht, das Referendum als eine Form des Populismus zu verteufeln.”
„Die Fragen, die das ungarische Referendum zum Kinderschutz aufwirft, sind in der europäischen Politik nicht neu: 2013 wurde in Kroatien ein Referendum darüber abgehalten, ob die Ehe ausschließlich die Verbindung von Mann und Frau festschreiben sollte, und obwohl das Referendum später wieder aufgehoben wurde, hatten 66% der Wähler positiv geantwortet.
In der Slowakei wurde vor sechs Jahren ein weiteres, für ungültig erklärtes Referendum über die gleichgeschlechtliche Ehe, die Genehmigung der Adoption von Kindern durch gleichgeschlechtliche Paare und die Sexualerziehung von Kindern in der Schule abgehalten, und die Reaktion der Bevölkerung war eindeutig: über 90% der Stimmen lehnten alle drei Themen ab. Es wird wohl niemanden überraschen, dass die ‚fortschrittliche’ Presse und Elite zwar die Ergebnisse der irischen Referenden über Abtreibung und gleichgeschlechtliche Ehe begrüßte, es aber im Falle Kroatiens und der Slowakei als empörend empfand, dass solche Fragen in einem Referendum behandelt werden konnten, und die Ungültigerklärung beider Referenden begrüßte.”
Die Debatte wird heißer
Laut Lomnici lehnen allerdings immer mehr „westliche” Mitgliedstaaten die Forderungen aus Brüssel ab:
– „In den Volksabstimmungen der letzten Jahre gab es in verschiedenen Ländern – von Griechenland über das Vereinigte Königreich, Dänemark, Ungarn und die Niederlande – die Tendenz, ‚Nein zu Europa’ zu sagen, was häufig zu einer Radikalisierung der politischen Debatte zwischen der Achtung der nationalen demokratischen Entscheidungen und der Mitgliedschaft in der Europäischen Union geführt hat. Das erklärt, warum die dominierenden EU-Staaten diese Form der Demokratie oft nicht – oder nicht in Übereinstimmung mit ihrem ursprünglichen Zweck – nutzen.”
– „In Deutschland ist die Einrichtung von Volksabstimmungen bekannt, allerdings nur auf der Ebene der Bundesländer; die letzten Volksabstimmungen auf Bundesebene stammen aus der Weimarer Republik, wo es zwei gab. Dies ist eine Besonderheit des deutschen Systems: Zwar sieht das Grundgesetz kein ‚Volksbegehren’ auf Bundesebene vor, doch das Inkrafttreten der Landesverfassungen macht Volksentscheide unumgänglich, und selbst auf den unteren Ebenen wird relativ häufig auf Volksentscheide zurückgegriffen.”
Ablehnung der Europäischen Verfassung
– „In Frankreich wurden seit 1793 fünfundzwanzig Referenden abgehalten, von denen elf Verfassungsänderungen betrafen, die in Ungarn zu den Themen gehören, über die kein Referendum durchgeführt werden darf. Beim letzten französischen Referendum am 29. Mai 2005, an dem 69% der Wähler teilnahmen, lehnten 55% der Franzosen die Europäische Verfassung ab – eine Entscheidung, die auch die Niederländer trafen, die bei einem Referendum, an dem 62% der Wähler teilnahmen, mit 69% dagegen stimmten. Obwohl der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte stets kritisch gegenüber Ländern und Regierungen ist, die eine nationale oder souveräne Haltung einnehmen, scheinen die niederländischen Bürgerinnen und Bürger dies anders zu sehen und schätzen die Souveränität und damit den Vorrang einer nationalen Verfassung.”
Zoltán Lomnici jr. und Vajk Farkas wiesen darauf hin, dass die Schweizer die Meister der Volksabstimmung sind, die seit 1848 etwa dreihundert Volksabstimmungen und fast ebenso viele Konsultationen durchgeführt haben. Hinter der Schweiz gelten auch Irland und Italien als große Referendumsnationen: Irland hat seit 1937 fünfunddreißig Verfassungsreferenden abgehalten, dreizehn davon nach 2000, Italien seit 1970 vierundachtzig.
Sie sitzen auf der Entscheidung des Volkes
Farkas weist jedoch darauf hin, dass „verschiedene Länder mit liberalen Regierungen wiederholt die Ergebnisse von Volksabstimmungen missachtet haben und die Staatsoberhäupter dann Entscheidungen getroffen haben, die diesen Ergebnissen zuwiderliefen”.
– „Beim Referendum von 2001 zur Bestätigung des Vertrags von Nizza, der die EU stärken sollte, stimmten die Iren nicht so ab, wie ihre Regierung es wollte: 54% der Wähler lehnten ihn ab. Anstatt den Willen des Volkes zu respektieren, zog es die irische Regierung vor, das Referendum zu wiederholen, wobei sie diesmal mehr Energie in die ‚Ja’-Kampagne steckte, so dass die Iren ein Jahr später schließlich so abstimmten, wie ihre Regierung es wollte.”
Farkas nennt auch das Beispiel des Landes von Mark Rutte: – „2005 lehnten die Niederländer die Europäische Verfassung ab, 2016 das Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der Europäischen Union; 2018 schließlich missbilligten sie ihre Regierung, indem sie gegen eine vorgeschlagene Änderung des Geheimdienstgesetzes stimmten, mit der der Umfang der Online-Aktivitäten der Geheimdienste erweitert werden sollte.
Nach dem Referendum ließ derselbe Mark Rutte – der niederländische Ministerpräsident und Verfechter der Rechtsstaatlichkeit, der Ungarn in die Knie zwingen möchte – dieses Geheimdienstgesetz trotzdem verabschieden, indem er die Entscheidung des Volkes ignorierte, und danach schuaffte Holland sogar die Praxis der Volksabstimmungen ab, die nur ‚Unannehmlichkeiten’ verursachen. Frau Sargentini hat natürlich sorgfältig darauf verzichtet, gegen eine solche undemokratische Entscheidung zu protestieren!”
Im Einklang mit den europäischen Traditionen
Vajk Farkas fasst schließlich zusammen:
– „Die Einberufung eines Referendums über den Kinderschutz entspricht durchaus den Traditionen und rechtsstaatlichen Gepflogenheiten der europäischen demokratischen Staaten;
in diesem Fall ist es sogar die einzige kohärente Haltung, die eine demokratische Regierung einnehmen kann.”
– „Das Referendum ist nicht nur eine Ohrfeige für die linksliberalen Eliten, die ihre Verachtung für den ‚Pöbel’, der sich nicht für ihr Credo begeistern kann, immer weniger verbergen können, sondern es ist vor allem eine Gelegenheit für uns, selbst über die Zukunft der Nation zu entscheiden. In der Tat: ‚Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk’. Tatsächlich hat die Institution des Referendums in vielen Fällen einen wichtigen Beitrag zur Stärkung der europäischen Integration geleistet.”
Bekanntlich kündigte Viktor Orbán Ende Juli ein Referendum über die Kinderschutzgesetze an, nachdem das ungarische Parlament ein Gesetzespaket verabschiedet hatte, das Brüssel als „homophob” und „beschämend” bezeichnete. Bei dem Referendum geht es unter anderem um die Frage, ob es öffentlichen Schulen erlaubt sein sollte, ohne die Zustimmung der Eltern Bildungsaktivitäten durchzuführen, die die Darstellung verschiedener sexueller Orientierungen beinhalten; die Regierung beabsichtigt aber auch, die Bürgerinnen und Bürger um ihre Meinung zu der Frage zu bitten, ob geschlechtsangleichende Operationen [für Minderjährige] erlaubt sein sollten oder ob es einen uneingeschränkten Zugang zu sexuellen Medieninhalten [für Minderjährige] geben sollte.
Der Premierminister empfahl den Ungarn, bei dem Referendum alle fünf Fragen mit „Nein” zu beantworten.
PHOTOGRAPHIE: MÁTÉ BACH